Elea Brandt's Blog, page 9
April 26, 2017
Alte, wie bist du denn drauf?
Die Tatsache, dass man Bücher schreibt, klingt für die meisten Menschen erst einmal spannend. Fällt der Begriff „Fantasy“, fallen die Reaktionen bereits gemischt aus. Kommt dann aber noch zur Sprache, dass meine Welten oft düster, gefährlich und blutrünstig sind, genau wie die Geschichten, die ich erzähle, ernte ich oft skeptische Blicke.
Bin ich vielleicht ein brutaler Mensch? Habe ich Freude an Gewalt, Blutvergießen oder Unterdrückung? Nein, ganz bestimmt nicht. Aber warum schreibe ich dann über solche Themen? Eine gute Frage, die ich in diesem Artikel versuchen möchte, zu beantworten.
Tolkien und die Nazis
Ich möchte zunächst etwas weiter ausholen. Die Bereitschaft, Autoren mit ihren Welten oder ihren Protagonisten gleichzusetzen, hat lange Tradition. Im Jahr 1980 schrieb der Journalist Michael Jovi einen flammenden Kommentar in der ZEIT, in dem er Tolkien Rassismus und Nazi-Ideologien vorwirft, die sich in seinen Werken wiederfänden. Wörtlich heißt es in dem Artikel: „Diese Recken und Elben, wie gleichen sie den reinen Toren der SS, die unwertes Leben vernichten, diese Elbenfrauen, gleich germanischen Göttinnen und reinen Maiden, blond und blauäugig wie die Ideale des BDM!“ (Zitat von Sphärentor).
Tatsächlich ist Mittelerde von einem klaren Schwarz-Weiß-Denken geprägt. Es gibt die Orks und die dunklen Diener Saurons auf der einen, die cleveren Hobbits und strahlenden Elben auf der anderen. Kriege werden gefochten, um das Böse zu besiegen und am Ende triumphieren die tapferen Helden. War Tolkien deswegen ein Rassist? Ist Mittelerde ein Drittes Reich in Fantasy-Optik? Bullshit. Zeit seines Lebens hat Tolkien sich nie durch rassistische Äußerungen hervorgetan, im Gegenteil: In seinen Briefen verurteilte er das Nazi-Regime und deren Ideologie aufs Schärfste. Seine Werke sind inspiriert von Mythen, Heldensagen und Legenden, von Stoffen, die wesentlich älter sind als deren Missbrauch durch die Nazis. Trotzdem haftet Tolkien dieses Vorurteil bis heute an.
Mrs. James‘ geheimer Pornokeller
Eine ähnlich Entwicklung zeigt sich übrigens auch bei zeitgenössischen Romanen, zum Beispiel im Fall von E. L. James, der Autorin der Erotik-Reihe „50 Shades of Grey“. In zahlreichen Interviews musste sich die Autorin pikanten Fragen stellen, ob denn die im Roman detailliert beschriebenen BDSM-Szenen im heimischen Schlafzimmer erprobt wurden oder ob sie vielleicht selbst einen „Raum der Schmerzen“ im Keller habe. Dabei ist E. L. James auch nur eine ganz normale Endvierzigerin mit zwei Söhnen und einem Hund. Ihr Ehemann beschreibt ihr Sexleben sogar als relativ spröde.
„Man muss nicht in der Bratpfanne gelegen haben, um über ein Schnitzel zu schreiben.“
– Maxim Gorkij
Interessanterweise scheint sich dieses Phänomen vor allem auf Fantasy und Erotik-Literatur zu beziehen. Kein Mensch käme auf die Idee, einem Krimi-Autor heimliche Mordgelüste vorzuwerfen. Auch Autoren historischer Romane müssen sich selten mit den Anschuldigen beschäftigen, sie würden sich die spätrömische Dekadenz, die mittelalterliche Inquisition oder die Feudalherrschaft zurückwünschen. Hier gelingt die Trennung zwischen Autor und Fiktion offenbar ziemlich gut.
Der Autor und sein Werk
Natürlich ist eine Trennung zwischen Verfasser und Werk nie zur Gänze möglich. Jeder Autor legt ein Stück von sich in seine Texte, greift Themen auf, die ihn berühren, die ihn beschäftigen, und verarbeitet vielleicht auch eigene Erfahrungen. Tolkien inspirierten die nordischen Mythen und Sagen, E. L. James die Lektüre von „Twilight“ (ehrlich, DAS finde ich viel verstörender als alles andere!) und Thriller-Autoren wie Simon Beckett, John Grisham oder Ferdinand von Schirach haben sich von ihrer eigenen Arbeit als Journalist oder Jurist beeinflussen lassen.
Bei mir verhält es sich nicht anders. Ich ziehe viel Inspiration aus dem Rollenspiel, aus den Welten und Charakteren, die ich dort erschaffe und erlebe, egal ob im Live Rollenspiel oder im Pen-and-Paper. Auch Filme, Romane oder Serien können mich inspirieren, manchmal nur einzelne Motive oder Figuren, manchmal Settings oder Atmosphäre. Und sicherlich trägt auch meine Arbeit hin und wieder dazu bei, meiner Neugier für komplexe Charaktere, ungewöhnliche Lebensgeschichten oder auch menschlichen Abgründen nachzugeben.
Wir sehen also: Ein Autor und sein Roman sind nie unabhängig voneinander zu betrachten, eine gewisse Distanz ist aber angebracht. Nicht alles, was in fiktionalen Geschichten erzählt wird, basiert zwingend auf eigenen Erfahrungen, Wünschen oder heimlichen Gelüsten, manchmal steckt auch mehr dahinter als das.
Kommen wir zur Ausgangsfrage zurück: Warum schreibe ich über brutale Welten, über Kriege, über Schlachten, über Mord und Totschlag?
Das Leben in einer feindlichen Welt
Zum einen liegt dem Ganzen eine durchaus psychologische Motivation zugrunde (ich kann eben auch nicht aus meiner Haut). Wir haben das Glück, in einer demokratischen, freiheitlichen Gesellschaft aufzuwachsen, in der die wenigstens Menschen jemals echten Hunger leiden, um ihr Leben bangen müssen oder Grausamkeit und Willkür ausgesetzt sind. Wir verfügen über ein Sozialsystem, über eine unabhängige Justiz und dürfen frei unsere Meinung kundtun. Sicher ist nicht alles perfekt, was in unserem Land passiert – bei weitem nicht! –, aber die Voraussetzungen, unter denen wir leben, sind eher günstig.
Aber wie ergeht es Menschen, die in einer feindseligen, einer ungerechten, einer bösartigen Welt aufwachsen? Wie arrangieren sie sich damit? Überschreiten sie irgendwann selbst die Grenzen der Moral, um zu überleben? Rebellieren sie gegen die Ungerechtigkeit? Oder arrangieren sie sich schweigend damit und gehorchen?
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gab es einige hochspannende Experimente zum Thema Konformismus und zur Macht von Rollenbildern. Vielleicht habt ihr schon einmal vom Milgram-Experiment gehört. Versuchspersonen nahmen die Rolle eines Lehrers ein und mussten einen Schüler für falsche Antworten mit Elektroschocks bestrafen. Ein wissenschaftlicher Mitarbeiter wies die „Lehrer“ immer wieder an, die Dosis der Stromstöße zu erhöhen und weiterzumachen. Die Probanden gehorchten, obwohl sie über Lautsprecher die Schmerzensschreie des Schülers in den Ohren hatten. Über die Hälfte der Teilnehmer erhöhte die Voltzahl sogar auf ein tödliches Niveau. In Wirklichkeit gab es keinen Schüler und die Schmerzenslaute waren nur gespielt. Trotzdem war das Ergebnis erschreckend.
Solche und ähnliche Experimente motivieren mich immer wieder, über die Frage nachzudenken, wie Menschen in Extremsituationen reagieren, welche Optionen sie haben und wie solche Entscheidungen eine Person nachhaltig prägen.
[image error] Eigenes Beispiel: Die Stadt des blutigen Gottes („Opfermond“)
Ghor-el-Chras ist ein erbarmungsloser Ort. Der Blutgott Chras und seine Anhänger diktieren die Regeln für das Zusammenleben, und diese sind denkbar einfach: Der Starke bezwingt den Schwachen. Wer nicht die Kraft hat, sich zu wehren, oder genügend Gold besitzt, ist zum Untergang verdammt. Es gibt keine unabhängige Justiz, die Recht spricht, keine Hilfe für Kranke, keine Almosen. Vor allem Frauen, Angehörige von Minderheiten oder körperlich schwache Menschen leiden unter dem brutalen Regime und haben oft keine Wahl, als sich ihm unterzuordnen. Was hält die Menschen an diesem Ort? Wie arrangieren sie sich mit den brutalen Regeln? Wie wahren sie ihr Gesicht? Wie rechtfertigen sie ihr Tun, nach innen und nach außen?
Antworten darauf kann ich euch hier und jetzt noch nicht geben, aber ich verspreche euch, ein paar Ideen dazu findet ihr bald in „Opfermond“.
Reale Konflikte in fantastischen Welten
Neben den psychologischen Fragen, die zweifellos spannend sind, bieten auch phantastische Welten die Chance, reale Konflikte und Schwierigkeiten zu thematisieren (wer sich dafür interessiert findet spannende Beiträge in der Blogreihe „Fantastische Realität“). Rassismus, Unterdrückung von Minderheiten, ideologische Feldzüge, Propaganda … all diese Probleme haben auch in der Fantasy Platz, aber natürlich nur in Welten, die Raum dafür bieten. Auch Krieg, Flucht und Neuanfang sind Themen, mit denen wir uns heutzutage vermehrt auseinandersetzen müssen. Warum also nicht auch in fantastischen Werken? Fantastik ist schon lange kein Rückzugsort für Realitätsverweigerer mehr, sondern eine Möglichkeit, Szenarien durchzuspielen, Möglichkeiten zu diskutieren und Themen kritisch zu hinterfragen. Das gilt natürlich auch für unbequeme Themen.
Entscheidend ist dabei die Art und Weise, wie Themen angegangen werden, denn trotz aller Distanz zwischen Werk und Autor darf die vermittelte Botschaft nicht aus den Augen gelassen werden. Wer Rassismus, Sexismus, Homophobie oder Missbrauch in ein positives Licht rückt, darf sich nicht wundern, wenn er dafür kritisiert wird. Entscheidend ist eine differenzierte Auseinandersetzung mit den Themen – ohne rosarote Brille, aber mit einer klaren Message. Auch Autoren haben eine Verantwortung, gerade bei sensiblen Themen. Man darf über alles schreiben, aber man muss sich der Wirkung dessen bewusst sein, was man transportiert.
[image error] Eigenes Beispiel: Diskriminierung und Terrorismus („Flammenkinder“)
Im Kaiserreich Nuberia herrscht eine klassische Theokratie: Der Kaiser gilt als Inkarnation des Sonnengottes und seine Entscheidungen sind unantastbar. Alle anderen Glaubensrichtungen werden verfolgt und ausgelöscht, allen voran die Ruzemi, ein Volk, das die Göttlichkeit des Kaisers anzweifelt. Um den Völkermord an den Ruzemi zu rechtfertigen, hat die Regierung zahlreiche Gerüchte ins Leben gerufen, und natürlich glaubt das Volk die Propaganda von Kindsmorden, Opferritualen und blutigen Anschlägen. Verfolgt und gejagt sind die Ruzemi gezwungen, ihren Glauben zu verstecken – oder gegen die Unterdrückung zu kämpfen. Aus dem Widerstand formieren sich die „Aschekrieger“, eine Gruppe von Untergrundkämpfern, die das Kaiserregime bis aufs Blut bekämpfen. Wie gehen die Menschen mit der Unterdrückung und Verfolgung um? Wie bewahren sie sich ihren Glauben an das Gute? Und wenn sie ihn verlieren – kann man es ihnen verdenken?
Der Realismus-Anspruch
Last but not least hat auch die Fantasy einen gewissen Anspruch an realistische Darstellung. Das ist ein Punkt, über den sich streiten lässt, ich will ihn aber nicht außen vor lassen. Die Prämissen einer Welt unterliegen immer dem Autor, und selbst wenn man sich wie ein G.R.R. Martin an mittelalterlichen Vorbildern orientiert, muss das nicht heißen, dass man auch Gesellschaftsformen, Frauenbild oder Vorurteile dieser Zeit übernimmt. Warum nicht eine Welt von mittelalterlichem Fortschrittsgrad entwerfen, in der Gleichberechtigung herrscht? Oder eine orientalische Gesellschaft, in der gleichgeschlechtliche Beziehungen voll akzeptiert werden? Alles ist möglich.
Trotzdem muss auch eine fantastische Welt in sich logisch sein – und das schließt auch unangenehme Begebenheiten ein. Kriege, Unterdrückung oder Naturkatastrophen haben ganze Zeitalter geprägt, demnach sollte man sie auch bei Fantasy-Welten nicht ausblenden, mit allen daraus resultierenden Konsequenzen und Schrecken (auch der Gedanke einer utopischen Welt ohne Krieg und Leid kann natürlich reizvoll sein, das nur am Rande). Krieg zu verharmlosen oder zu verherrlichen ist der größte Fehler, den ein Autor begehen kann. Dabei ist es nicht erforderlich, nur um der Schockeffekte wegen grausige Details darzustellen und nur noch über Blut und Eingeweide zu schreiben, viel wichtiger sind die Auswirkungen auf den Einzelnen, das Psychologische dahinter. Genau das macht eine Geschichte spannend.
[image error] Eigenes Beispiel: Kriegstrauma („Unter einem Banner“)
Der Wunsch nach Expansion und Ausweitung von Ressourcen bringt den König von Serin dazu, Krieg gegen seine nördlichen Nachbarn zu führen. Während das Heer die ersten Grenzposten noch problemlos einnimmt, wird die Belagerung der feindlichen Hauptstadt zum Desaster. Wintereinbruch, Hunger und steigende Verluste machen den Soldaten zu schaffen, senken ihre Moral. Kameraden sterben, die ersten Soldaten begehren auf, desertieren. Was als Triumphzug geplant war, verkommt zu einem Alptraum. Und mitten drin steht Reykan, seines Zeichens königlicher Offizier, und muss sich entscheiden: Folgt er seinem Pflichtgefühl oder seiner Vernunft?
Kommen wir zu einem Fazit. Ja, ich schreibe über Gewalt, über Krieg und darüber, was es mit den Menschen macht. Ich baue Welten, die nicht immer schön sind, oft sogar bedrohlich oder feindselig. Manchmal gewinnt das Gute, manchmal erleide die Helden Rückschläge und manchmal gibt es gar keinen Sieger. Natürlich ist es okay, wenn jemand mit diesen Themen nichts anfangen kann, sich vielleicht unwohl fühlt darüber zu lesen und zu schreiben. Ehrlich, das ist doch das Schöne an der Bücherwelt: Für jeden gibt es den passenden Lesestoff.
Auch für mich gibt es Grenzen, die ich ungern überschreite: Folter, Gewalt gegen Kinder und extrem grausame Todesfälle zum Beispiel. Und noch nie hat explizite, übertrieben Gewaltdarstellung dazu beigetragen, dass ich ein Buch besonders gut fand. Aber kritische Auseinandersetzung mit unangenehmen Themen, psychologische Gedankenspiele und realistischen Weltenbau schreibe ich mir gerne auf die Fahne.
Wie steht es bei euch, verarbeitet ihr solche Themen in euren Werken? Was inspiriert euch dazu? Stören euch Gewaltdarstellungen als Leser? Wo zieht ihr eure persönliche Grenze? Lasst es mich wissen.


April 23, 2017
Gewinnspiel: Welttag des Buches
„Essen vertreibt den Hunger, Lesen vertreibt die Dummheit.“
– chinesisches Sprichwort
Ihr Lieben, heute ist der Welttag des Buches. Eigentlich sollte ja jeder Tag im Jahr ein Buch-Tag sein, denn Bücher sind nicht nur ein Tor zu anderen Welten, sondern auch eine Quelle neuer Freunde und neuer Erkenntnisse.
In den letzten Jahren habe ich selber viel zu wenig gelesen, habe mich mehr mit meinen eigenen Werken beschäftigt als mit denen anderer. Seit einer Weile versuche ich dieses Defizit auszugleichen und mir wieder mehr Zeit für andere Bücher zu nehmen.
Heute möchte ich aber gerne euch beschenken und habe mir deswegen ein kleines Facebook-Gewinnspiel ausgedacht.
Was kann ich gewinnen?
Ich verlose je einen Ebook-Code für die Kurzgeschichten-Anthologien „Fantasy-Lesebuch 4“ und „Die Helden-WG“, einzulösen im Verlagsshop vom Verlag OhneOhren.
In beiden bin ich als Mia Neubert jeweils mit einer Geschichte vertreten – genau wie viele andere talentierte Kolleginnen und Kollegen.
Wie funktioniert das Gewinnspiel?
Liked den Original-Beitrag zum Gewinnspiel auf meiner Facebookseite und schreibt in einem Kommentar darunter, welches der beiden Ebooks ihr gerne gewinnen würdet und welches Buch euch im letzten Jahr besonders beeindruckt hat. Gerne auch mit Begründung.
Der Gewinner wird per Zufallsprinzip unter allen Teilnehmern ermittelt. Ihr dürft auch in beide Lostöpfe hüpfen, allerdings kann jeder nur einmal gewinnen. Sollte ich einen Namen zweimal ziehen, entscheidet der Zufall, welches Ebook die Person erhält.
Natürlich freue ich mich, wenn ihr das Gewinnspiel auf eurer Seite teilt, meine Seite liked oder Freunde markiert, für die Teilnahme am Gewinnspiel ist das aber nicht erforderlich.
Wie lange läuft die Aktion?
Teilnehmen könnt ihr bis zum 30.04.2017 um 23.59 h.
Im Laufe des 1. Mai 2017 werde ich die Gewinner bekannt geben, diese werden über Facebook per Privatnachricht informiert und im Beitrag markiert. Den Code versende ich dann via Email. Melden sich die Gewinner nicht binnen 14 Tagen, verlose ich den Gewinn erneut.
Nehmen innerhalb des Zeitraums weniger als 10 Personen am Gewinnspiel teil, behalte ich mir vor, den Zeitraum zu verlängern. Dies wird dann per Facebook bekannt gegeben.
Rechtliche Bestimmungen
Facebook hat nichts mit dem Gewinnspiel zu tun und steht nicht als Ansprechpartner zur Verfügung. Wer am Gewinnspiel teilnimmt, stellt Facebook frei. Private Daten des Gewinners werden nicht bekannt gegeben. Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.
Ich wünsche euch viel Glück und viel Lesefreude in nächster Zeit!
Eure Elea Brandt


April 11, 2017
Fürchtet euch sehr!
»Das heißt, wovor du am meisten Angst hast – ist die Angst. Sehr weise, Harry.
– Albus Dumbledore, „Harry Potter und der Gefangene von Askaban“
Dies ist ein Beitrag zur #geekquest2017
Mit 15 Jahren (oder 14?) sah ich zum ersten Mal „Blairwitch Project“ und habe mich zu Tode gefürchtet. Eigentlich bin ich hart im Nehmen, aber dieser Film hat mich nachhaltig verfolgt. Story und Umsetzung sind denkbar simpel: Eine Gruppe Studenten macht sich auf, um in den Wäldern von Maryland eine Reportage über die Hexe von Blair zu drehen. Doch trotz intensiver Vorbereitung verirren sich die Freunde in den Wäldern, einer ihrer Begleiter ist plötzlich spurlos verschwunden und bald müssen sie feststellen: sie sind nicht allein.
Heute, mehr als 12 Jahre später, finde ich den Film immer noch verdammt unheimlich. Warum eigentlich? Was macht diesen Film so gruselig? Ich habe mal die für mich persönlich bedeutendsten Punkte herausgegriffen und mir überlegt, was ich als Autor davon lernen kann. Da ich kein Filmwissenschaftler bin, kann ich nicht explizit auf Aspekte der Darstellung oder Kameraführung eingehen, sondern bleibe bei den offensichtlichen dramaturgischen Stilmitteln.
1. Pack sie an den Urängsten!
Ich denke, „Blairwitch Project“ hat mich genau erwischt, wo es wehtut: an meinen Urängsten. Der Begriff der „Urangst“ stammt aus der Psychoanalyse und beschreibt nach Sigmund Freud alle aus dem „Geburtstrauma“ resultierenden Ängste des Menschen. Spätere Definitionen gehen etwas weiter und bezeichnen Urangst allgemein als Angst um die körperliche bzw. seelische Gesundheit, als das Gefühl von Hilflosigkeit in einer feindseligen Welt oder als kollektiven Angstzustand vor einem bestimmten Reiz, den eine größere Gruppe von Menschen übereinstimmend teilt.
Bei einem Orientierungs- und Survival-Idioten wie mir löst schon allein die Vorstellung, in einem undurchdringlichen Wald verloren zu gehen, eine regelrechte Panikreaktion aus. Und das ist ja nur die Spitze des Eisbergs. Viele Horror-Filme, vor allem psychologischer Horror, schlagen in diese Kerbe, bedienen Ängste, die in einer Art unterbewusstem Kollektiv verankert sind. Die Angst vor der Dunkelheit, die Angst vor Einsamkeit, die Angst vor dem sprichwörtlichen Monster unter dem Bett. Natürlich sind das althergebrachte Motive, aber nichts destotrotz funktionieren sie. Bestimmt wirken sie nicht bei allen gleich – erfahrene Pfadfinder sind von der „orientierungslos im Wald“-Nummer vielleicht weniger abgeschreckt –, aber die meisten Menschen fühlen sich davon angesprochen.
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Düstere Orte – typische Urangst?
Darf man sich auch als Autor solcher Tropen bedienen? Natürlich. Stephen King spricht in seinen Romanen regelmäßig klassische Urängste an, sei es in „Das Mädchen“ (die Angst, allein verloren zu gehen), „Friedhof der Kuscheltiere“ (die Angst, Angehörige zu verlieren) oder „Es“ (das Monster unter dem Bett bzw. in der Kanalisation).
2. Nutze das Unerklärliche
„Die älteste und stärkste Form der Angst, ist die Angst vor dem Unbekannten.“
– H. P. Lovecraft
Besser als mit diesem Zitat könnte man Lovecrafts Lebenswerk nicht zusammenfassen. Mit seinem Cthulhu-Mythos spricht er genau diese Angst an. Die Angst vor Dingen, die wir nicht verstehen, die wir nicht begreifen, die wir noch nicht einmal erfassen können. Das große, namenlose Grauen, das im Verborgenen lauert. Auch „Blairwitch Project“ arbeitet mit dieser grundlegenden Angst vor dem Unfassbaren. Was den Studenten in den Wäldern zustößt, bleibt bis zum Ende des Films unbegreiflich und lässt sich mit rationalem Menschenverstand nicht erklären. Daraus resultiert der Schrecken.
Gerade in unserer von Wissenschaft durchdrungenen Gesellschaft lösen Geistererscheinungen, Alien-Sichtungen oder unerklärliche Verschwörungstheorien Beklemmung aus. Meine persönlichen Highlights sind dabei übrigens die Ereignisse am Djatlow-Pass und der Somerton-Man. Falls ihr die Geschichten nicht kennt, lest euch die Seiten durch und sagt mir dann, dass ihr das nicht unheimlich findet.
3. Nutze die Vorstellungskraft
Viele Horrorfilme haben für mich in dem Moment verloren, in dem das Monster vor die Kamera springt. Selbst wenn Maske und CGI-Effekte das Grauen effektiv auf die Leinwand bannen können, wird keine von Hollywood bildlich dargestellte Kreatur jemals den Schrecken aufwiegen können, den wir uns im Kopf zusammenreimen. Das ist der große Vorteil von Horror-Literatur, hier wird das Grauen weitgehend der Fantasie des Lesers überlassen. Gänsehaut garantiert. Auch bei den Kurzgeschichten von Altmeister H.P. Lovecraft haben – in meinen Augen – diejenigen die größte Wucht, die nicht versuchen, das unfassbare Grauen aus der Tiefe in beschreibende Worte zu kleiden, sondern denen es gelingt, den Schrecken, den es auslöst, plastisch zu zeigen. Dasselbe gilt auch für Horror-Filme. Je weniger explizit, desto stärker ist ihre Wirkung.
Auch hier macht „Blairwitch Project“ alles richtig. Das „Monster“, die Hexe von Blair, wird an keiner Stelle tatsächlich gezeigt. Alles, was wir erleben, ist die Panik der Studenten, die Angst, die Beklemmung. Und die subtilen Anzeichen, dass irgendetwas in diesem Wald lauert: Fußspuren, rituelle Symbole und nächtliche Geräusche. Kein Splatter, kein Blut, keine Jump Scares. Einfach nur subtiler Horror.
Natürlich kann auch blutiger Splatter seinen Reiz haben, aber wirklich gruseln tue ich mich dabei selten. Im Übrigen können auch sichtbare Monster Horror auslösen, wenn die Atmosphäre stimmt, wenn sich der Autor nicht darauf verlässt, dass allein der Anblick der Kreatur den Zuschauer in Panik verfallen lässt. Gute Beispiele dafür sind „Alien“, „Sinister“ oder auch das Videospiel „Amnesia – The Dark Descent“.
Falls ihr den ultimativen Beweis für die Macht der Vorstellungskraft sucht, stöbert mal ein bisschen in den „Kürzesten Horrorgeschichten der Welt“. Gänsehaut garantiert – und das nur mit wenigen Worten. Den Rest macht eure Fantasie.
Fazit
In wenigen Worten Angst, Furcht oder Grauen zu erzeugen ist möglich, aber nicht einfach. Nicht alle Menschen haben vor denselben Situationen oder Kreaturen Angst, ähnlich wie Humor ist auch Horror extrem personenspezifisch. Trotzdem schaffen es manche Werke, eine große Menge von Lesern oder Zuschauern in Angststarre zu treiben. Die oben genannten Punkte sind sicher nur die Spitze des Eisbergs, denn literarische oder filmische Stilmittel, Kameraführung, Plotgestaltung etc. habe ich hier noch völlig außen vor gelassen. Sie sind aber nichtsdestotrotz wichtig.
Wie steht es mit euch, womit kann man euch schockieren? Welche Filme oder Bücher haben euch so richtig das Fürchten gelehrt? Stellt euch doch auch der Geekquest.
April 4, 2017
Das super-nützliche Autoren-ABC
Die Geschichte der Schreiberei ist eine Geschichte voller Missverständnisse.
Deswegen möchte ich heute nach all den ernsten Artikeln der letzten Wochen einen nicht ganz ernstzunehmenden super-duper- wichtigen Beitrag leisten, um Verständigungsprobleme zwischen Autoren und normalen Menschen zu beheben. Darum kommt hier das ultimative Autoren-ABC.
Anfang, der. Der Moment, in dem sich der Autor entschließt, das Prokrastinieren heute mal ausnahmsweise bleiben zu lassen und die ersten Worte zu Papier zu br… oh, ein Eichhörnchen!
Bunny, das. Auch: Plotbunny. Süßes, flauschiges Häschen mit großen Augen, das nett guckt und dem Autor eine unwiderstehliche Idee zuflüstert, meistens für äonenumspannende Pentalogien, hochkomplexe Intrigengeschichten oder anspruchsvolle E-Literatur. Kommt in der Regel dann, wenn man gerade Besseres zu tun hat oder eine Deadline winkt.
Charakter, der. Fehlt manchen Menschen zwar im echten Leben, sollte im Roman aber vorhanden sein. Literarischer Wegbegleiter, der den Autor in Atem hält und manchmal auch macht, was der von ihm will. Hab ich gehört.
Deadline, die. Vom Autor, Verlag oder Agenten festgesetzter Zeitpunkt, an dem das Manuskript vielleicht unter ganz guten Umständen so annähernd beinahe ganz fertig sein sollte. Macht ein hübsches Geräusch, wenn sie vorbeizieht.
Exposé, das (auch: Grauen, Nemesis). Möglichst stringente, spannende Zusammenfassung des Manuskript-Inhalts, die potentielle Verleger oder Agenten in Beifallsstürme ausbrechen lassen soll. Erfordert gute Nerven, eine robuste Stirn (contra Tischplatte) und möglichst ausrauffeste Haartracht.
Fanfiction, die. Von begeisterten Fans verfasste Geschichten über literarisch bzw. filmisch bekannte Figuren und Realitäten, die ein kreatives Eigenleben entwickeln. Spielplatz für alle Autoren, die ein bisschen Spaß haben wollen.
Gurkensalat, der. Universeller Platzhalter für Namen, Orte, Berufsbezeichnungen oder was auch immer dem … ähm … Gurkensalat gerade nicht einfallen wollte. Sollte vor Veröffentlichung lieber ersetzt werden.
Handlung, die (englisch: Plot). Durchdachter, stringenter, spannender, innovativer Inhalt einer Geschichte. Oder so ähnlich. Wird in der Regel überbewertet.
Indie-Autor/in, der/die. Mutiger Schreiberling, der die Grenzen des Mainstreams überwindet und sich durch den Kleinverlags-Dschungel schlägt oder das Abenteuer „Selbstverlag“ auf sich nimmt.
Jugendsünde, die. Längst vergessenes Erstlingswerk, an das man sich mit einer Mischung aus Nostalgie und Schaudern zurückerinnert. Siehe auch Fanfiction.
Kaffee, der (auch: Lebenselixier). Notwendiges Antriebsmittel für alle Autoren, gerüchteweise bisweilen auch durch Tee oder Alkohol ersetzt.
Love interest, der oder die. Geile Sau, für die der/die Protagonist/in in ewiger Liebe entbrennt. Sollte unter gar keinen Umständen glitzern. Außer, es ist ein Einhorn.
Muse, die. Treulose Tomate, die gerne winkend vorbeizieht, wenn man gerade total viel Zeit und Motivation zum Schreiben hat. Kommt dafür dann, wenn die Steuererklärung oder ein Familienfest winkt. Trotzdem unverzichtbar. Siehe auch Plotbunny.
Nanowrimo, der. Sechste Jahreszeit (nach Karneval), in der Autoren weltweit dem Wahnsinn verfallen, in 30 Tagen mindestens 50.000 Wörter an einem Roman zu schreiben. Geilste Sache der Welt. Großer Bruder vom Camp Nanowrimo.
Obsessiv, Adj. Wie? Wer? Ich? Niemals! Geh weg da, ich muss jetzt schreiben! Sofort! Aaaaah!
Plotloch, das. Logiklücke in der Handlung oder unerwarteter Bruch, an dem es einfach nicht weitergeht. Erfordert meistens etwas Hirnschmalz oder – besser – Austausch mit intelligenten anderen Menschen.
Quatsch, der. Machen Autoren nie, die sind voll ernst. Bester Beweis ist dieser Beitrag.
Rock Bottom, der. Tiefpunkt der Geschichte, an dem es dem Protagonisten so richtig dreckig geht. Gerne begleitet von manischem Lachen oder debilem Grinsen des Autors.
Sieben Punkte, die. Nützliches Konstrukt von Dan Wells zum Konzipieren eines Plots in sieben Schritten. Schöner Leitfaden, an den ich mich am Ende doch wieder nicht halte.
Tintenzirkel, der. Anlaufstelle für Plotfragen, Recherchelücken oder kluge Ratschläge. Bietet auch für Nichtmitglieder eine umfangreiche Sammlung an Recherchefragen von A bis Z.
Ueberraschende Wendung, die. Unerwarteter Twist in der Handlung, den der Autor niemals so geplant hatte. Führt entweder zum perfekten Abschluss oder mitten in ein Plotloch.
Verlag, der. Kuscheliges Buchzuhause, Tor in die Bestseller-Welt oder manchmal auch Autorenhölle. Lebt im Idealfall von motivierten, buchliebenden Menschen mit ganz viel Herzblut.
Wordcount, der. Zielstandsmesser für Autoren, der ihnen zeigt, wie viele Wörter sie heute schon auf Papier gebracht haben. Oder viel eher: Wie viele nicht.
Xylophon, das. Hat mit Schreiben nichts zu tun, fängt aber mit X an und bringt viele Punkte bei Scrabble.
Youtube, das. Informatives Videoportal, ideal für Podcasts, Live-Lesungen, Recherche oder … Ja gut, wir schauen Katzenvideos! Zufrieden?
Zonk, der. Gibt’s für denjenigen, der alles glaubt, was in diesem Beitrag steht.


March 24, 2017
Hilfe, meine Figur ist ein Psychopath! (Teil 2)
„Ich verlange von den Leuten nicht, daß sie mir angenehm sind, weil es mich vor dem Problem bewahrt, sie zu mögen.“
– Jane Austen
Im Blogartikel von letzter Woche habe ich mich mit der Frage beschäftigt, wieso Psychopathen hervorragende literarische Gegenspieler abgeben und was sie auszeichnet. Heute möchte ich mich einer etwa diffizileren Frage widmen, nämlich: Kann ein Psychopath auch Sympathieträger sein? Und wenn ja, wie soll das funktionieren?
Sie sind unter uns!
Nicht alle Psychopathen sind skrupellose Killer, Kannibalen oder sadistische Massenmörder. Es gibt eine Gruppe von Psychopathen, die sich beinahe lautlos in unserer Mitte bewegt, ohne, dass es uns auf den ersten Blick auffallen würde. Typen, die hinter Bankschaltern lauern, an Börsen spekulieren oder in Aufsichtsräten sitzen. Der Kriminalpsychologe Robert Hare bezeichnet diese Menschen als „corporate psychopaths“: Unternehmenspsychopathen.
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Menschenschinder oder Manager?
Im Gegensatz zu den im letzten Beitrag zitierten literarischen Psychopathen begehen diese Leute keine blutrünstigen Morde oder lassen Leute die Köpfe abschlagen (höchstens im übertragenen Sinn). Sie agieren als clevere Puppenspieler, manipulieren, intrigieren, spielen andere gegeneinander aus. Vordergründig sympathisch und charmant gewinnen sie schnell alle Herzen, bleiben aber in ihren Emotionen immer oberflächlich und kühl.
Auf der Suche nach Beispielen fällt der Blick mal wieder einmal nach Westeros. Während sich Psychopathen wie Joffrey Baratheon oder Ramsey Bolton durch ihre extremen Verhaltensweisen, ihr mangelndes Mitgefühl und ihr brutales Vorgehen zunehmend selbst ins Abseits drängen, haben wir in Tywin Lannister durchaus einen „corporate psychopath“. Tywin ist gefühllos, ehrgeizig und skrupellos, aber trotzdem ausgesprochen erfolgreich. Er zieht im Hintergrund die Fäden, weiß genau, wann er zuschlagen muss, um den bestmöglichen Profit zu erreichen. Anderer Leute Gefühle – selbst die seiner eigenen Kinder – sind ihm dabei höchstens lästig. Damit wird Tywin sicherlich nicht zu Mr.-Nice-Guy gewählt, aber im Vergleich zu seinem Enkel Joffrey ist er in der Lage, sein Verhalten zu steuern, sich sozialadäquat zu verhalten und rationale Entscheidungen zu treffen. Auf der Psychopathie-Checkliste von Robert Hare würde er vermutlich deutlich unter der Grenze für klinisch auffällige Psychopathen landen.
Mein Freund der Psychopath
Nun ja, wie ihr sicher merkt sind wir unserer Ausgangsfrage noch nicht wirklich näher gekommen, denn machtgierige Puppenspieler sind nicht unbedingt wesentlich sympathischer als Kannibalen. Nur etwas weniger blutrünstig und etwas weniger verhaltensauffällig.
Es bleibt also die Frage: Kann ein Psychopath zum Held einer Geschichte taugen? Kann sich ein Leser mit einer solchen Person irgendwie identifizieren? Ja. Das geht. Als Beispiel möchte ich diesmal keine literarische Figur heranziehen, sondern den Protagonisten der Netflix-Serie „House of Cards“, den fiktiven US-Politiker Frank Underwood.1
Auf den ersten Blick ist Frank ein typischer „corporate psychopath“. Er stammt aus widrigen familiären Verhältnissen, hat sich mit viel Ehrgeiz und wenig moralischen Schranken an die politische Spitze manövriert und intrigiert was das Zeug hält. Er spielt politische Parteien gegeneinander aus, schmeichelt sich ein, macht haltlose Versprechen, kramt schonungslos schmutzige Wäsche hervor und schubst auch mal Leute vor die U-Bahn, wenn sie ihm gefährlich werden. Klingt nicht gerade wie ein Vorzeige-Held? Nein, wirklich nicht.
Trotzdem ertappt man sich beim Ansehen der Serie immer wieder dabei, wie man sich auf Franks Seite stellt, seinem Gegner ein Scheitern wünscht, sein Verhalten schönredet, denn trotz all seiner Intrigen bleibt Frank irgendwie sympathisch. Wie macht der Kerl das?
Sympathien erzeugen
Im Laufe der Serie erfährt der Leser viel Persönliches über Frank, über seine Kindheit, seine Jugend, seine Ehe. Wir lernen ihn auf einer menschlichen Ebene kennen, sehen nicht nur den skrupellosen Politiker, sondern auch den Mann hinter der Maske und dessen kleine Fehler und Unzulänglichkeiten. Unterstützt wird diese emotionale Beteiligung durch Franks direkte Kommunikation mit dem Publikum. Durch das Durchbrechen der vierten Wand fühlt sich der Zuschauer persönlich angesprochen, wird zu Franks exklusivem Vertrauten, dem er sogar Geheimnisse anvertraut. Ganz klar, dass diese Nähe Sympathie schafft.
„Moments like this require someone who will act. Who will do the unpleasant thing, the necessary thing.“
– Frank Underwood, House of Cards (2013)
Darüber hinaus verfügt Frank über einige Eigenschaften, die von uns grundlegend als sympathisch oder positiv angesehen werden. Er ist ein Self-made-man, ein Mann aus einfachen Verhältnissen, der sich an die Spitze gearbeitet hat. Eine Vorbildfigur. Er ist ehrgeizig, intelligent, zielstrebig und beweist Humor. Seine moralisch verwerflichen Handlungen dienen nie einem niederen Zweck, sondern fügen sich in ein geschickt gesponnenes Gesamtbild ein, dessen Raffinesse uns immer wieder zum Staunen bringt. Kurzum: Er wickelt den Zuschauer mit seinem zynischen Humor und seinem Charme genauso um den Finger, wie seine politischen Gegner. Außerdem spielt er Videospiele. Wie kann ein Gamer nicht sympathisch sein?
March 18, 2017
Hilfe, meine Figur ist ein Psychopath! (Teil 1)
„Haben Sie schon mal versucht, ohne Macht verrückt zu werden? Das ist langweilig. Niemand hört einem zu.“
– Russ Cargill in „Simpsons – Der Film“
Psychopathen. Ihre Lebenswelt fasziniert uns ebenso sehr, wie sie uns abstößt. Wir finden sie in Filmen, Büchern, Serien – und bisweilen auch im Alltag. Aber was zeichnet eigentlich einen Psychopathen aus? Wie realistisch sind die Darstellungen in der Literatur? Und was macht einen Psychopathen zum perfekten literarischen Gegenspieler?
Alltag trifft Wissenschaft
Im Alltagsjargon und der täglichen Presse wird der Begriff „Psychopath“ häufig gebraucht, meist für einen Menschen, den wir für eiskalt, berechnend und menschenverachtend halten. Mit der wissenschaftlichen Betrachtungsweise von Psychopathie stimmt diese Alltagsdefinition aber nur partiell überein.
In den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts beschrieb der Psychiater Hervey Cleckley in seinem berühmten Werk „Mask of Sanity“ Psychopathie erstmals als Persönlichkeitsstörung, die sich hinter einer Maske der Normalität verbirgt. Fast fünfzig Jahre später führte der kanadische Kriminalpsychologe Robert Hare seine Forschungen weiter. Jahrzehntelang arbeitete er mit Strafgefangenen und entwickelte daraus eine wissenschaftlich fundierte Checkliste, um Psychopathen erkennen und klassifizieren zu können. Diese „Psychopathy Checklist“, kurz PCL, ist bis heute eines der am meisten verwendeten Diagnoseverfahren in der Begutachtung von Straftätern.
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Hannibal, der (zu) perfekte Psychopath?
Als Prototyp eines Psychopathen in der Literatur wird gerne einer herangezogen: Hannibal Lecter. Psychiater, Musikliebhaber, Menschenfresser. Tatsächlich erfüllt Dr. Lecter eine ganze Reihe von Kriterien, die nach Hares Checkliste einen Psychopathen auszeichnen. Lecter ist charmant, manipulativ und selbstgerecht, er empfindet keine Reue für seine Taten, keine Empathie für seine Opfer und auch keine tieferen Gefühle für andere Menschen. Damit treffen auf ihn tatsächlich einige Punkte zu, die zu einer psychopathischen Persönlichkeit passen, doch die norwegischen Wissenschaftler Aina Sundt Gullhaugen und Jim Aage Nøttestad fanden bei Lecter nur einen PCL-Wert von 24. Als psychopathisch gelten Personen in der Regel erst ab einem Wert von 30. Wie kommt das?
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Hannibal Lecter: Der perfekte Psychopath?
Lecter ist als Psychopath eine Spur zu perfekt. Er ist hochintelligent, planungssicher, macht nie Fehler. Im „Schweigen der Lämmer“ gelingt es ihm nicht nur, der jungen FBI-Agentin Starling relevante Informationen über ihren laufenden Fall und ihre Vergangenheit zu entlocken, sondern entkommt obendrein aus einem Hochsicherheitsgefängnis und nimmt sogar noch Rache am verhassten Gefängnisdirektor. Genau hier liegt der Knackpunkt. Lecter stellt einen Idealbösewicht da, einen Mann, der trotz seines Wahnsinns brillant agiert. Ein Prototyp des criminal masterminds, der in der Realität selten existiert, die Zuschauer oder Leser aber in besonderem Maße fasziniert.
Reale Serienmörder wie der nie gefasste Zodiac Killer oder Ted Bundy boten das Vorbild für diese Form der „Elite-Psychopathen“ und formten die implizite Annahme, Psychopathen müssten neben ihrer Skrupellosigkeit, ihrer Gefühlskälte und ihrer Empathielosigkeit weltgewandte, gebildete und hochintelligente Personen sein, die jeden ihrer Schritte genau bedenken (s. Zitat). Dies trifft aber nur teilweise zu.
„Psychopathen sind nicht verrückt. Sie sind sich dessen, was sie tun und der Konsequenzen ihres Handelns vollkommen bewusst.“
– Mads Mikkelsen als Hannibal Lecter in „Hannibal“ (TV-Serie)
Neben einer antisozialen, kaltherzigen und skrupellosen Persönlichkeit zeichnen sich Psychopathen nämlich meistens auch durch einen sozial inadäquaten Lebensstil aus. Sie empfinden schnell Langeweile, suchen den Kick (z.B. in Drogen oder Kriminalität), leben auf Kosten anderer, sind impulsiv, unbeherrscht und schwer dazu fähig, sich langfristige Ziele zu stecken. Sie pendeln von einer Station im Leben zur anderen, wechseln die Partner genauso oft wie die Jobs und weisen oft auch eine problematische Kindheit und Jugend auf, in der es bereits zu Verhaltensauffälligkeiten kam. Abgesehen vom letzten Punkt trifft keines dieser Kriterien auf Hannibal Lecter zu.
Ab mit ihrem Kopf!
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Joffrey Baratheon, ein Psychopath auf dem Königsthron
Ein literarisches Beispiel für diese Aspekte der Psychopathie stellt zum Beispiel Joffey Baratheon dar, der unsympathische Zwischendurch-mal-König aus G. R.R. Martins „Lied von Eis und Feuer“. Joffrey ist kalt, skrupellos und machthungrig, er stellt sein Ego über alles, hat kein Mitleid mit anderen, agiert aber bisweilen in Konversationen durchaus charmant (z.B. mit seiner Verlobten Sansa). Bis dahin ist er Dr. Lecter noch recht ähnlich. Aber: Joffrey steht sich mit seiner selbstgerechten, impulsiven Art selbst im Weg, schafft sich Feinde. Seine Suche nach dem besonderen Kick lebt er aus, indem er andere quält und misshandelt, während er vor echter Verantwortung zurückschreckt und lieber andere für sich in den Kampf ziehen lässt. In Bezug auf die wissenschaftliche Definition erfüllt Joffrey damit mehr Kriterien der Psychopathie als Hannibal Lecter (aufgrund seines jungen Alters und der spezifischen Lebensumstände sollte man hier aber vorsichtig mit einer Diagnose sein).
Der Psychopath als Antagonist
Neben Joffrey und Lecter ließen sich bestimmt noch zahlreiche andere Beispiele von Psychopathen finden, die als Gegenspieler in einem literarischen Werk auftauchen (allein Westeros scheint voll von diesen Typen!). Der Grund dafür liegt auf der Hand: kaltherzige, skrupellose Machtmenschen ohne Empathie mit einem übergroßen Ego geben hervorragende Antagonisten ab. Sie vereinen in sich so viele negative Eigenschaften, dass es dem Leser leicht fällt, sie zu verachten, ihnen ein Scheitern zu wünschen. Zugleich üben diese Menschen aber auch eine morbide Faszination aus, die es dem Leser schwer macht, sich emotional so von ihnen zu distanzieren, wie es vielleicht bei einem dunklen Herrscher Sauron oder einem Lord Voldemort möglich ist. Diese Balance zwischen Verachtung und emotionaler Beteiligung funktionierte im Fall von George Martins Epos so gut, dass Jack Gleeson, der in der Serienverfilmung die Rolle des Joffrey Baratheon gab, sogar private Drohbriefe und Hassbotschaften aufgebrachter Zuschauer erhielt. Obwohl diesen bewusst gewesen sein dürfte, dass es sich nur um einen Schauspieler handelte, war die Entrüstung über das Verhalten des von ihm gespielten Charakters so immens, dass die Distanz zusammenbrach.
Darüber hinaus haben Psychopathen als literarische Gegenspieler noch einen zweiten Vorteil für den Autor: sie sind in der Regel nicht perfekt. So faszinierend die Vorstellung eines hoch-intelligenten kriminellen Genies à la Hannibal Lecter ist, nicht jeder psychopathische Antagonist muss in dieses Schema passen – im Gegenteil. Die meisten realen Psychopathen sind impulsive Personen mit einem unsteten Lebensstil, die sich mit ihrem Ego und ihrer Unfähigkeit, auf andere Menschen einzugehen oder deren Emotionen nachzufühlen, irgendwann so sehr selbst im Weg stehen, dass ihre Pläne scheitern. Sie mögen intrigieren, manipulieren, andere für ihre Zwecke benutzen – irgendwann kommt vielleicht der Moment, an dem sie sich einen Feind zu viel geschaffen haben, an dem sie zu weit gehen, an dem sie vor lauter Selbstbezogenheit oder aus einer impulsiven Laune heraus nicht mehr fähig sind, rationale Entscheidungen zu treffen.
Die Wissenschaft bestätigt diesen Eindruck. In ihrem Werk „Snakes in Suites“ (auf Deutsch „Menschenschinder oder Manager“) erklären Robert Hare und der Arbeitspsychologie Paul Babiak, dass Psychopathen aufgrund ihrer Gefühlskälte und ihrer Ellbogenmentalität zwar eine gute Aussicht darauf haben, in Führungspositionen zu gelangen, durch ihre Unfähigkeit zur Kooperation, ihr fehlendes Verständnis für andere und ihre mangelnde Bereitschaft, Fehler einzusehen, aber selten erfolgreich dabei sind. Wer dafür ein gutes, reales Beispiel sucht, muss nur ins Weiße Haus schauen.
Im Übrigen – das nur als Fußnote – ist Psychopathie nicht auf Männer begrenzt, allerdings liegt das Geschlechterverhältnis etwa bei 20:1. Trotzdem gibt es auch sehr überzeugende Darstellungen weiblicher Psychopathen in der Literatur, z.B. im Thriller „Gone Girl“ oder in Stephen Kings „Mysery“ (nicht zu vergessen Cersei Lannister, wie gesagt, Westeros ist ein Tummelplatz von Psychopathen).
Die Take-Home-Message
Letzten Endes erweisen sich Psychopathen also als hervorragende literarische Gegenspieler. Sie vereinen in sich zahlreiche Eigenschaften, die es dem Leser erleichtern, sie zu hassen, faszinieren aber genug, um ihren Werdegang (oder ihr Scheitern) hautnah miterleben zu wollen. Sie haben mit ihrer vordergründig charmanten, manipulativen Art gute Chancen darauf, politisch oder wirtschaftlich aufzusteigen, ihre Selbstbezogenheit und die Unfähigkeit, auf andere einzugehen oder langfristig Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen, machen sie wiederum angreifbar.
Wie sieht es bei euch aus, seid ihr kürzlich – literarisch! – einem Psychopathen begegnet? Wie gefiel euch die Umsetzung? Oder gibt es heimliche Psychopathen in euren eigenen Büchern? Habt ihr sonst noch Fragen zum Thema? Ich freu mich über euer Feedback.
Nächste Woche widme ich mich übrigens im zweiten Teil dieses Themas der Frage, ob Psychopathen auch zum Helden einer Geschichte taugen. Wenn ihr neugierig seid, hier geht’s zum zweiten Teil: Hilfe, meine Figur ist ein Psychopath! (Teil 2)
Literatur
Babiak, P. & Hare, R. (2007). Snakes in Suites. When psychopaths go to work. HarperBusiness.
Swart, Joan (2016). Psychopaths in films: Are portrayals realistic and does it matter? In: M.Arntfield & M. Danesi (Hrsg.). The criminal humanities (S. 73-98). Peter Lang International Academic Publishers.
Gullhaugen, A.S. & Nøttestad, J.A. (2010). Looking for the Hannibal Behind the Cannibal: Current Status of Case Research. International Journal of Offender Therapy and Comparative Criminology, 55, S. 350-369.


March 5, 2017
Depressive Drachentöter
Artikel aus der Blogreihe „Phantastische Realität“ (Artikel-Übersicht)
In einer Welt, die verrückt spielt, ist nur ein Irrsinniger wahrhaft geisteskrank.
– Homer J. Simpson
Die Auseinandersetzung mit psychischen Störungen ist in vielen Bereichen der Literatur verbreitet. Goethe schrieb über den depressiven „Werther“, E.T.A. Hoffmann über den zerstörerischen Wahnsinn im „Sandmann“. Auch in zeitgenössischer Literatur haben die Protagonisten immer wieder mit schweren Schicksalsschlägen und ihren eigenen inneren Dämonen zu kämpfen, z.B. mit Drogenabhängigkeit („Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“), Anorexie („Dann bin ich eben weg“) oder Depression/Suizidalität („A long way down“).
Depressive Drachentöter und zwanghafte Zauberer
Doch in der Fantasy? Ein Drachentöter mit Depression? Ein Zauberer mit Zwangsstörung? Ein Krieger mit Kleptomanie? Schwer vorstellbar. Der stereotype Fantasy-Held ist ein strahlender Saubermann, ein tapferer Streiter für das Gute, der selbst den schlimmsten Verlockungen widersteht und jedem noch so gefährlichen Gegner tapfer die Stirn bietet. Er (oder sie) metzelt sich unerschrocken durch feindliche Horden, hält den sterbenden Kameraden die Hand und erzählt am Ende mit grimmigem Stolz in der Stimme von seinen legendären Heldentaten.
Trotz allem Sarkasmus bleibt im Kern aber doch etwas Wahres übrig. Die Fantasy, selbst in ihrer düstersten, blutrünstigsten Ausformung, lebt von Helden. Von Figuren, die eine Entwicklung durchleben, die Stärke beweisen, die sich gegen Widrigkeiten zur Wehr setzen. Wird dieses Bild erschüttert, bleiben viele Leser ernüchtert zurück. Ein prominentes Beispiel ist Katniss Everdeen, die Heldin aus der Dystopie „Die Tribute von Panem“. Zu Beginn noch die mutige, aufopferungsvolle Kämpferin für das Gute, zerbricht die junge Frau zunehmend am Grauen des Krieges. Naheliegend, betrachtet man die schrecklichen Erlebnisse, deren Zeuge sie wurde. Trotzdem bedauerten viele Leser den Verfall ihrer Heldin, kritisierten das „nervliche Wrack“ (Amazon-Rezension), zu dem die Autorin ihre Protagonistin hat verkommen lassen. Es erscheint naheliegend, dass sich manche Leser lieber mit einer starken, ehrgeizigen und leidensfähigen Katniss identifizieren wollen, als mit einer, die an die Grenzen des Menschenmöglichen gelangt ist. Bedauerlich ist es dennoch, dass die realistische Darstellung psychischer Leidenszustände in diesem Kontext als unangenehme Charakterschwäche wahrgenommen wird.
Dabei ist die Ätiologie psychischer Krankheiten nicht ausschließlich auf die Eigenschaften der betroffenen Person zurückzuführen, sondern wesentlich vielfältiger und komplexer. Die genetische Disposition kann dabei genauso eine Rolle spielen wie die psychosoziale Entwicklung, die Persönlichkeit und verschiedene Umwelteinflüsse. Die Entstehung einer psychischen Störung als „charakterliche Schwäche“ auszulegen, ist demnach stark vereinfacht bis schlichtweg falsch. Viel eher zeugt es, meiner Ansicht nach, von persönlicher Stärke, offen mit seinen Problemen umzugehen und sich den eigenen psychischen Handicaps zu stellen. Hier ergeben sich auch für die Fantasy spannende Spielräume mit vielfältigen Optionen. Dazu aber später mehr.
Joffrey, Gollum und die Pathologisierung des Bösen
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Gollum: Dissoziative Identitätsstörung
Wie eingangs bereits erwähnt, sind Helden in der Fantasy nur selten von psychischen Störungen betroffen – die Bösewichte hingegen sehr wohl. Das Spektrum reicht von zwanghafter Persönlichkeitsstörung (Dolores Umbridge, „Harry Potter“) über Psychopathie (Joffrey Baratheon, „Lied von Eis und Feuer“) bis hin zu dissoziativer Identitätsstörung (Gollum, „Herr der Ringe“). Sollte man daraus schlussfolgern, dass psychisch kranke Menschen per se böse sind? Wohl kaum.
Symptome psychischer Störungen – vor allem solche, die primär Leiden bei den Mitmenschen und weniger beim Betroffenen selbst hervorrufen – wirken schon deswegen schnell antagonistisch, weil sie gängigen Regeln unseres Zusammenlebens widersprechen. Personen, die gegen moralische Standards und soziale Mechanismen verstoßen, damit sogar noch anderen schaden, finden sich schnell auf der dunklen Seite der Macht wieder. Teils sicher zu recht. Einen zwanghaften, sadistischen Narzissten als Identifikationsfigur oder Love Interest zu verkaufen, könnte schwierig werden (außer, der Kerl ist Millionär, versteht sich *ironie aus*), doch jede Figur mit einer psychischen Störung in die Gegenspieler-Ecke zu drängen, ist nicht nur banalisierend, sondern befeuert obendrein die Stigmatisierung psychisch kranker Menschen.
Raus aus dem Symptom-Korsett
Natürlich muss ich an dieser Stelle einräumen, dass die diagnostische Einordnung der genannten Figuren primär meiner eigenen Einschätzung entspricht. Die meisten Fantasy-Welten sehen eine Diagnostik oder gar Therapie psychischer Störungen nicht vor, vor allem dann nicht, wenn sie an frühere irdische Epochen (z.B. Mittelalter oder Antike) angelehnt sind. Bekanntermaßen wurden psychische Störungen lange Zeit gar nicht als solche erkannt oder – schlimmstenfalls – als dämonische Besessenheit interpretiert. Die angewandten Behandlungsmethoden können dabei bestenfalls als barbarisch bezeichnet werden, die ersten Ansätze pharmakologischer oder verhaltenstherapeutischer Behandlung finden sich erst Mitte des 20. Jahrhundert.
Schlechte Voraussetzungen also für den depressiven Drachentöter – zugleich aber auch eine Chance für den Autor. Weder besteht die Notwendigkeit, eine Störung konkret beim Namen zu nennen, noch den Charakter in ein Korsett vorgegebener Symptome zu zwängen. Psychische Störungen sind ebenso vielfältig und vielgestaltig wie diejenigen, die an ihnen leiden, den Prototypen einer Depression, einer Schizophrenie oder einer Angststörung gibt es nicht und selbst Symptomlisten beschreiben das faktische Fühlen oder Erleben der Betroffenen oft nur unzureichend. Wichtig ist also: Auch Figuren mit psychischen Krankheiten sind Individuen, Charaktere, keine Personifikation ihrer Störung.
Die Figur und ihre Psyche
Diese Maxime beschreibt auch ganz gut mein eigenes Vorgehen. Zu Beginn der Überlegung steht immer eine Figur, eine Idee. Daraus entwickelt sich dann ein Konzept und daraus wiederum ein individueller Charakter. Meistens stelle ich erst am Ende dieses Prozesses fest, dass die Figur bestimmte Symptome aufweist oder dass ihre Lebensgeschichte und ihre persönlichen Erfahrungen nicht spurlos an ihr vorübergegangen sein können. Da meldet sich natürlich auch die Psychologin in mir, die mit großem
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Facetten psychischer Gesundheit
Interesse die Entwicklung einer Figur bzw. ihre spezifische Lebensgeschichte verfolgt und sich schon allein aus fachlicher Neugier die Frage stellt: Wie geht die Person mit dieser Erfahrung um? Wie wirken sich die Lebensumstände auf ihre Persönlichkeit aus, auf ihre soziale Interaktion oder auf ihre individuellen Stärken und Schwächen?
Natürlich kann das Ziel eines Plots nicht darin bestehen, die Figur komplett von ihren Symptomen zu heilen (außer, sie ist Millionär und … ja, ich hör schon auf). Das Stichwort lautet hier „Coping-Strategien“: Fähigkeiten, die der Figur dabei helfen, mit ihrem psychischen Handicap zurecht zu kommen, ihre Schwierigkeiten zu kompensieren oder Hilfe und Verständnis bei anderen zu finden. Genau diese Strategien sind der Schlüssel zur Entwicklung einer Figur und zur realistischen Auseinandersetzung mit der psychologischen Thematik.
Zwei eigene Ideen
Zuletzt möchte ich euch, als kreativen Abschluss dieser ganzen Textwand, zwei meiner Charaktere vorstellen, die mit psychischen Handicaps zu kämpfen haben. Sicherlich sind die beiden nicht der Weisheit letzter Schluss und ob es mir gelungen ist, meine oben genannten Maßstäbe hier zu erfüllen, sei dahingestellt. Versteht meine Beispiele bitte nicht als Lösungsvorschlag oder Handlungsempfehlung, sondern als kleine Illustration dessen, was ich im Laufe dieses Artikels von mir gegeben habe. Meine persönliche Baustelle, sozusagen.
FARAL, Auftragsmörderin
Diagnose: Autismus
Ihre Geschichte: Von ihrer Familie verstoßen und in Armut aufgewachsen, wurde Faral schon als junges Mädchen von einem Jünger der „Bruderschaft“, einer Assassinen-Gilde, gefunden und ausgebildet. Sie erweist sich als ausgesprochen ehrgeizig und effizient, bis es ihr zum ersten Mal nicht gelingt, einen Mordauftrag zu Ende zu führen. Plötzlich sieht sich die Einzelgängerin gezwungen, Bündnisse zu schließen, und sich auf Beziehungen zu anderen Menschen einzulassen, um zu überleben. Eine Erfahrung, die sie an ihre Grenzen bringt.
Symptome: wenig Verständnis für Gefühle oder zwischenmenschliche Beziehungen, Schwierigkeit, sich in andere hinein zu versetzen, Bestehen auf festen Routinen oder Denk- bzw. Handlungsmustern, vermindertes Schmerzempfinden, Lichtempfindlichkeit, stereotypes Wiederholen von Regeln und Kodizes, wenig Gespür für Humor, Sarkasmus oder soziale Regeln
Wie sie damit umgeht: Faral hat eine hervorragende Nische für sich gefunden. Als Assassine arbeitet sie allein, Gefühle sind ihr dabei eher im Weg und sie kann sich an ihren eigenen Regeln und Routinen orientieren. Schwierig wird es, sobald sie gezwungen ist, Verhaltensweisen anderer Menschen zu begreifen oder vorherzusehen. Hier konzentriert sie sich auf Beobachtungen, versucht Gesetzmäßigkeiten in den Handlungen anderer zu finden und ist meistens irritiert, wenn ihre üblichen Routinen nicht funktionieren. Trotzdem lernt sie stetig, entwickelt ihre persönlichen Regeln weiter und erstellt sie so ihr ganz eigenes Bild von der Welt.
Szene: Nachdenklich betrachtete sie ihren Schützling, der tief und fest schlief. Veränderungen hatten Faral immer Angst gemacht, hatten ihr das Gefühl gegeben, die Kontrolle zu verlieren. Diese Veränderung jedoch fühlte sich richtig an. Sie würde die Jagd vermissen, die Energie, das Pulsieren in ihren Adern, und es würde Zeit brauchen, um die neuen Regeln zu lernen. Seris Regeln. Doch dafür hatte sie wieder ein Ziel, eine Aufgabe, eine Bestimmung. Etwas, das ihrem Dasein einen Sinn verlieh, und das über bloßes Überleben hinausging.
[aus: „Aschekrieger“, unv. Manuskript]
REYKAN, Soldat des Königs
Diagnose: Posttraumatische Belastungsstörung
Seine Geschichte: Reykan ist Soldat mit Leib und Seele: loyal, strebsam und pflichtbewusst. Ein gescheiterter Kriegszug lässt ihn jedoch an seinen Idealen und seiner Treue zum König zweifeln und der Tod seiner Kameraden, vor allem seines Geliebten, zerbricht ihn endgültig. Reykan hadert mit sich, mit seiner Schuld, mit seiner Rolle als Soldat und sucht verzweifelt nach einer neuen Lebensaufgabe. Nicht so einfach, wenn die Schatten der Vergangenheit nicht loslassen wollen.
Symptome: nachhallende Erinnerungen an das Ereignis (Flashbacks), Alpträume, Schlafstörungen, Reizbarkeit, Schuldgefühle, Alkoholmissbrauch zur Selbstmedikation, sozialer Rückzug
Wie er damit umgeht: Reykan versucht die unangenehmen Erinnerungen zunächst mit Alkohol zu betäuben (wenig erfolgreich), bis er gezwungen wird, sich seinen inneren Dämonen auf konstruktive Weise zu stellen. Es gelingt ihm, eine neue Aufgabe im Leben zu finden und sich über diese Aufgabe – und eine neue Liebe – neu zu definieren. Er kann mit seiner Vergangenheit abschließen und beginnt, auch seine Schuldgefühle aufzuarbeiten und nach vorne zu blicken. Ein langwieriger Prozess, der mit dem Ende er Geschichte nicht vorbei ist.
Szene: Kein Traum. Es war real. Das Lager brannte. Er durfte nicht die Nerven verlieren, er musste …
Blutiger Schnee. Tote Leiber. Bleiche Gesichter. Reykan schüttelte sich, presste die Hände auf die Schläfen. Das Blut rauschte in seinen Ohren, toste durch seine Adern. Hilflosigkeit, Schuld, Zorn, alles prasselte plötzlich mit der Gewalt einer Lawine auf ihn ein. Er stieß einen gequälten Laut aus. Nein! Nicht jetzt, verdammt!
Ruhe bewahren. Einatmen. Ausatmen.
»Reykan?« Er fühlte eine Hand auf seiner Schulter, jemand hielt ihn fest. »He, sieh mich an!«
[aus: „Unter einem Banner“, unv. Manuskript]
Kommen wir zu einem Fazit. Auch die phantastische Literatur bietet spannende Optionen, psychische Störungen zu thematisieren, und aufzuzeigen, welche Wege Menschen finden, damit umzugehen. Dabei erscheint es wichtig, ein psychisches Handicap nicht als unüberwindbare Schwäche oder amüsanten Tic darzustellen, sondern dem Helden nach und nach Strategien an die Hand zu geben, die ihm helfen, mit seinen Symptomen konstruktiv umzugehen. Natürlich erfordert dieses Vorgehen ein gewisses Fingerspitzengefühl und Recherche – aber die Mühe lohnt sich.

